Marokko 2020
Samstag, 22.02.2020, Marrakesch
Ich habe gut geschlafen und beim Frühstück durchströmt mich ein warmes Körpergefühl. Mein Bauch wird weich und warm. Mein Körper entspannt sich, die Hüften, mein Gesicht. Ich fühle auch Traurigkeit in mir. Ich nehme sie an und freue mich über sie. Denn sie will mir etwas sagen und das ist gut so. Es ist die Trauer über mein ungelebtes Leben. Und die Angst, dass ich es nicht schaffen könnte, in Glück und Liebe zu leben, hier in Marokko und überhaupt. Beides ist okay und darf sein. Es hilft mir, im Moment zu sein, und der fühlt sich gerade sehr gut an. Dafür bin ich sehr dankbar.
Langsam, inneres Befinden und äußere Eindrücke wahrnehmend, schlendere ich durch die Souks und nehme Kontakt zu den Menschen auf, bis auf eine Touristin, deren Blick meinem begegnet und wir lächeln uns kurz an, ausschließlich Marokkaner. Viele sitzen apathisch oder mit sich beschäftigt vor ihren Läden, spazieren oder hetzen durch die Gassen, ohne dass ich sie interessiere. Bin hier ja quasi mittlerweile auch zuhause und will kein "normaler Tourist" sein. Manche grüßen kurz, ça va? Francais? Und gut ist. Andere bitten mich in ihren Laden. Wenn ich mit meinem Herzen in Kontakt gehe, ihnen in die Augen schaue und mit den Augen nein danke sage, verstehen sie sofort und ich gehe dankbar über das tiefe gegenseitige Verständnis weiter. Gelingt mir das nicht, muss ich mit meinem Nein schon deutlicher werden. Nur vereinzelt werde ich etwas aufdringlicher in einen Laden gelockt.
Von den Parolen "entscheide dich für das Glück, für die Liebe in dir" halte ich nicht so viel. Ich bin sehr sensibel gegenüber Fassaden, denn diese prägten meine Kindheit. Sie ließen keinen Platz für wahre Gefühle, Schmerz Trauer, Wut, auch nicht wahres Glück, Bedürfnisse. Es gab keine Wahrhaftigkeit. Oder viel zu wenig. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass bedingungslose Annahme mich immer tiefer zu meinem Selbst führt und damit zu meiner Selbstliebe. Klarer als Teal Swan mit ihrem completion process hat das noch nirgends gefunden.
Beim gehen durch die souks wird mir das Wechselspiel zwischen Innen- und Außenwahrnehmung bewusst. Es gelingt mir mal mehr, mal weniger, mit dem Herzen zu sehen, nach außen, in die Augen und Herzen der Menschen, und auch nach Sinnen, in mein Herz. Zu verlockend ist die Sehnsucht, die Liebe im außen zu suchen. Vor zwei Jahren hatte ich dort ein wertvolles Gegenüber. Doch mein Blick nach innen war nicht immer stark und wurde irgendwann immer schwächer, zu schwach. Jetzt bin ich ganz auf mich alleine gestellt. Ich kann den Weg sehen und werde ihn weitergehen.
Mein Selbstgewahrsein verläuft in Wellen. Gerade hat mich mein Kranksein wieder eingeholt, ein leicht fiebrigen Körpergefühl und ein entzündeter Hals. So werde ich angehalten, in Ruhe und im Moment zu sein. Es gibt natürlich auch eine Stimme in mir, die sagt, Montag musst du gesund sein, dann musst du losradeln.
Im Maison de la Photographie habe ich auch einen Film aus dem Atlas aus dem Jahr 1957 gesehen. Berbertänze und andere Kultur, sehr inspirierend. Jetzt relaxe ich bei Verbenentee und Linsensalat auf der Terrasse des Museums.
Am Straßenrand steht ein relativ schickes MTB mit Scheibenbremsen. Der Besitzer steht daneben, wir kommen ins Gespräch. Er erzählt von seiner Arbeit, 6 Tage die Woche, bis zu 11 Stunden, in dem Restaurant vor dem er steht. So hat er leider keine Zeit, mit dem Rad mal in die Berge zu fahren. In der Hochsaison verdient er 450 Euro, in der Nebensaison 200. Werder Bremen kennt er natürlich und heute Abend spielt der Verein gegen Dortmund, die einen Marokkaner im Team haben, Hakimi, wie er mir erzählt, denn ich hab kaum Ahnung von Fußball.
Vor einem Laden fallen mir kunstvolle Insekten aus Metall auf und sofort blickt der gerade noch in sein Smartphone vertiefte Verkäufer auf und spricht mich an. Ich bin überzeugt, die Marokkaner haben einen siebten Sinn fürs Verkaufen.
Ein anderer Verkäufer begrüßt mich überschwänglich. Offenbar hatten wir heute morgen schon mal Kontakt. Ich erinnere mich allerdings nicht, aber ich bin schon sein Freund. Ich gehe mit in seinen Laden aus Neugierde, merke dann aber, dass mir das zu viel ist und nicht echt und verabschiede mich wieder. Beim Gehen bietet er mir noch Aphrodisiaka an. Ich ziehe den Kopf ein und schüttle mich.
Da taucht Regina auf, mitten in den Souks. Ich hatte sie gestern im Flughafen von Frankfurt kennengelernt, zusammen mit Martina aus Hamburg und Katja aus Bremen, die mich schon in Bremen im Flieger vor dem Start ansprach mit den Worten: na, wohin fliegt denn der Affe. Der Affe ist Coco, ein süßer Plüschaffe und mein ständiger Begleiter, der (natürlich!) aus meinem Rucksack schauen und von dort viele meiner Reisen sicher und geborgen genießen darf. Es stellte sich, wie gesagt noch in Bremen, heraus, dass Katja auch nach Marrakesch fliegt, auch zum Radfahren, und eine kleine Plüschmaus hat sie auch dabei. Ich war schon etwas verdutzt über so viel Gemeinsamkeiten und wir kommen in ein gutes Gespräch. Sie reist mit einer Gruppe. Radfahren und Yoga in Marokko. Sie leitet das Yoga an.
In den Souks taucht kurz nach Regina auch der Rest der Gruppe auf und es gibt ein schönes Wiedersehen. Zufälle gibt es!
Ich fühle mich doch wieder schlapper und meine Atemwege sind gereizt. Ich gönne mir noch einen gehaltvollen Avocado-Dattelsaft und leg mich in mein Bett. Richtig runter komm ich aber nicht und ich zieh ganz langsam los, schleiche zum Dar Said direkt um die Ecke. Der alte, frisch renovierte Palast ist eigentlich ein Teppichmuseum, aber das Gebäude, die prunkvollen Räume und vielen Verzierungen faszinieren mich mehr. Es ist nicht viel los und ich genieße den Aufenthalt. Dann zieh ich noch weiter zum Bahia-Palast. Der hat schon zu, denn es ist nach fünf. Nicht schlimm, dann hab ich schon für morgen ein Ziel. Dafür besuche ich noch die Mellah, das Judenviertel. Ich werde etwas zu oft aufgefordert, Gewürze zu erraten, und krieche wieder langsam in mein Riad.