Bremen - Stuttgart - Bremen 2021
Samstag, 8. Mai 2021
Von Bremen bis Flugplatz Damme
Mit einem Tag Verspätung fahre ich los. Am Mittwoch hatte ich meine erste Corona-Impfung erhalten und lag dann am Donnerstag mit Kopfschmerzen und etwas Fieber flach. Letztlich gut so, denn so konnte ich am Freitag in aller Ruhe die letzten Vorbereitungen treffen. Da hatte ich doch noch Einiges zu tun.
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Ich will mit meinem Reiserad – oder auch Adventure-Bike - , einem Falkenjagd Hoplit mit Pinionschaltung, 29-Zoll-Geländebereifung, Gepäckträger hinten, Gabelträger vorne, Schutzblechen und Cane-Creek-Federsattelstütze nach Stuttgart radeln, dort ein paar Tage meine Mutter besuchen und wieder zurückradeln. Zeitbudget: zwei Wochen. Auf dem Hinweg will ich überwiegend über Radfernwege bis ins Münsterland, später dann am Rhein und Neckarentlang. Dazwischen auch mal MTB-Passagen, mit komoot geplant, um ein Gefühl dafür zu bekommen, mit gut bepacktem Rad auf Pisten zu fahren. Das Ganze ist auch Test und Training für meine ab Juni geplante Zeit habe. Zurück von Stuttgart will ich durch den Schwäbischen Wald, durch das Sinntal und dann irgendwie entlang der Fulda und Weser zurück nach Bremen, allerdings nicht auf Radrouten, sondern auf komoot-MTB-Routen, zumindest solange wie ich Lust habe. Ich habe Zelt, Kocher dabei und nicht akribisch am Gepäck gespart, um möglichst autonom zu sein und auch Schlechtwetterperioden gut zu überstehen.
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Ich freue mich auf die Tour und bin gespannt, wie es mir ergehen wird. Am wichtigsten ist mir, dass ich in einen guten Flow mit mir komme, meine Tour genieße und das heißt vor allem, im Moment zu sein, loszukommen von diesem tief in mir verwurzelten „Weiter-Weiter!“, in das ich so leicht reinrutsche, Das Gefühl, ich bin nicht schnell genug, das ständige vorausschauen zum nächsten Zwischenziel, das ich möglichts bald erreichen sollte, der Blick auf das bereits Geleistete, das doch größer sein konnte, das Chekcen der Durchschnittsgeschwindigkeit, das Hochrechnen meiner Tagesleistung und wie weit ich es heute wohl schaffen werde, das Bewerten, ob das denn gut genug ist, was auch immer das bedeutet. Das strengt natürlich ziemlich an und verdirbt den Spaß am Sein und das Genießen des Moments. Es steckt aber tief in mir drin, woher auch immer es kommt, und ich will mich ihm stellen. Das träge, schwer beladene Rad und ein für mich großzügiger Zeitrahmen von zwei Wochen – bis Stuttgart und natürlich auch wieder zurück nach Bremen – sollen mir dabei helfen.
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Dies dient der Vorbereitung meiner großen, zweimonatigen Tour nach Kirgisistan. Mitte Juni soll es los gehen. Ich habe Angst, dass es mir nicht gelingt, in guter Verbindung mit mir, dem Land, den Menschen, dem Moment zu sein. Im Iran vor zwei Jahren und in Marokko im letzten Jahr war mir das nicht gut gelungen, dagegen sehr beim Wandern im Sarek vor vier Jahren und beim Radfahren in Marokko vor dreien. Für Kirgisistan ist dies mein größter Wunsch. Er schlummert in mir und ich kann fühlen, dass er sich frei entfalten wird.
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Die Tour ist auch ein Test, wie es mir mit den äußern Bedingungen gehen wird: schweres Rad auf MTB-Pisten, dank Corono-Lockdown keine Möglichkeiten einzukehren oder zu übernachten oder sonstwie Unterschlupf zu finden, draußen Kochen und bei jedem Wetter zelten. Die Corona-Pandemie beschert mir noch einen weiteren Spannungsfaktor, denn nicht nur in Bremen, sondern in vielen anderen Regionen Deutschlands herrscht „Notbremse“, also Sieben-Tage-Inzidenzwerte von über 100 über mehrere Tage. Ich sollte eigentlich also zuhause bleiben. Doch es zieht mich raus und ich will durch Deutschland radeln. Da ich nachts ja im Zelt verschwinde und auch sonst sehr kontaktarm unterwegs sein werde, belaste ich mein Gewissen mal mit dem Regelbruch. Nur was tun, wenn ich, unterwegs auf einem auffällig beladenen Drahtesel, von der Polizei aufgegriffen werde? Ehrlich gesagt hab ich keine Antwort auf die Frage. Ich werde im Lichte der Begegnung meine Karten offen auf den Tisch legen und auf Milde, Interesselosigkeit, vielleicht auch Hilflosigkeit der Ordnungskräfte hoffen. Der Plan außerdem: ich hoppse von Insel zu Insel im Coronasumpf Deutschland, sprcih von Landkreis zu Landkreis ohne Notbremse. Am ersten Tag muss ich es bis in den Landkreis Osnabrück schaffen. Das scheint mir machbar, denn Osnabrück ist doch so 100 km entfernt, oder?
Am Werdersee mach ich ein Startfoto von mir und meinem Rad und dann geht es bei freundlichem Wetter über den Brückenradweg durch frühlingsgrüne Landschaft und Wälder gen Osnabrück. Die namengebenden Bauwerke, die einen Fotostopp wert sind, sind schnell erreicht: die kleine Fußgängerbrücke hinter Fahrenhorst und die Ozenbrücke durch den Auenwald bei Harpstedt.
Beim Hügelgrab südlich von Wilstedt mach ich eine Vesperpause. Dann strecke ich die Nase wieder in den stramm von vorne blasenden Wind. Der Himmel wird immer dunkler, als ich auf einen kleinen Dorfplatz stoße mit Sitzmöglichkeiten und Schutzhütte. Hier werfe ich erstmals meinen neuen Benzinkocher an. Es gibt ne ordentliche Stichflamme und ich bin von meinen Künsten nicht so überzeugt. Doch schließlich ist die Gulaschsuppe heiß und ich nicht nur satt, sondern auch zufrieden, mir rechtzeitig eine gute Pause gegönnt zu haben und nicht Dauerradelmodus verfallen zu sein, bis ich nicht mehr kann. Zudem fängt es auch an zu pieseln. Eine Pause ohne Schutzhütte wäre jetzt sehr blöd. Der Regen nimmt zu und ich ziehe alle Regenklamotten an: Jacke, lange Hose und Überschuhe.
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Der Weg zieht sich und ch überlege, den Haken zum Dümmer See abzukürzen. Ich fahr dann aber doch hin, schließlich will ich ja auch was sehen. Es ist grau und verregnet, aber das Radeln ist okay. Langsam wird es auch später und dunkler und ich bin immer noch nicht in Damme. Der Verkehr geht deutlich zurück, die Notbremse scheint zu greifen. Auf den See werfe ich nur einen kurzen Blick, Dunkelheit und Corona sitzen mir im Nacken. Damme kürze ich ab und finde kurz darauf ein kleines Wäldchen, an dessen Rand ich schön zelten kann. Es hat aufgehört zu regnen. Ein Specht trommelt vehement gegen einen Baum, der einen prima Resonanzkörper abgibt. Will ich diesen Krach haben? Na klar, so ein Specht ist doch ein toller Kumpel!