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Kirgisistan 2021 - Bishkek und Ala-Artscha-Nationalpark

Donnerstag, 17. Juni 2021

Bishkek, Ankunft in der Hauptstadt von Kirgisistan

Mein Abreisetag gestern war mit ein paar unangenehmen Überraschungen versehen. Ich hatte bis zur Abfahrt mittags um eins genung Zeit, mit meiner Mitbewohnerin Urte zu frühstücken und fertig zu packen. Als ich meine Reisetasche und auch den Radkarton verschnürt, zugeklebt und mit Frischhaltefolie gesichert hatte, fiel mein Blick in den Radkeller und im Chaos dort entdeckte ich meinen Vorderradgepäckträger. Den hatte ich tatsächlich komplett aus dem Auge verloren! Weder montiert noch eingepackt. Das hätte ein böses Erwachen in Kirgisistan gegeben! Ich würge ihn durch die Trageöffnungen des Radkartons. Zum nochmal Öffnen bin ich zu faul. Da klappert er jetzt halt rum.

 

Da ich bis zur Abfahrt noch Zeit habe, latsche ich zum nächsten Bankautomat und teste meine Kreditkarte. Sie ist relativ neu und ich hatte noch nie mit ihr Geld abgehoben. Eine neue PIN kenne ich nicht. Gilt also noch die alte? Natürlich nicht! Wie blöd. Ich häng mich ans Telefon und zum Glück wird mir eine neu zugestellt. Allerdings erst in einer Woche. Urte darf sie mir hinterherschicken.

 

Mein vom Reisebüro Yildirim vermittelter Transfer kommt pünktlich und die Fahrt nach Hamburg klappt prima. Ich stehe weit vorne in der Warteschlange, als ein Angestellter mich fragt, ob das Rad angemeldet sei. Äh, keine Ahnung, ich hatte darum im Reisebüro gebeten. Es stellt sich heraus, es war angemeldet, allerdings mit viel zu kleinen Maßen: 80 x 70 x 30. Ein Kinderfahrrad, wie wir amüsiert feststellen. Turkish Airlines bleibt entspannt. Ich versuche das auch, was bleibt mir anderes übrig? Sie versuchen, das Rad mitzunehmen. Garantieren können sie es mir allerdings nicht. Also darf ich weiter versuchen, mich entspannt, locker und vertrauensvoll in mein Schicksal zu ergeben. Was auch ganz gut gelingt.

 

Da bahnt sich die nächste Überraschung an: die Radkiste wiegt 35 kg! Drei Kilo zu viel! Ich überschlage rückwirkend: 15 kg das Rad, 5 kg der Karton (geschätzt), zwei kleine Radtaschen im Klamotten, eigentlich ganz leicht, Zelt, Schlafsack, Isomatte, Helm. Doch alles ganz leicht. Hilft nichts. Ich muss was rausnehmen. Nein, doch nicht. Der freundliche Angestellte gibt grünes Licht. Ich vermute, da mein normales Gepäckstück nur 16 kg wiegt, es dürfte aber 40 kg wiegen.

 

So, einen hab ich noch: die Kiste ist zu groß für den Scanner. Also muss ich sie doch öffnen, damit der Kontrollbeamte, ebenfalls super freundlich und hilfsbereit, mal reinschauen kann. Okay, es hilft nichts. Alles muss auf: Frischhaltefolie, Spanngurte, Verklebungen. Er schaut kurz ins Chaos, wischt etwas mit einem Läppchen rum, ich nehme an, um Sprengstoff zu detektieren, und hilft mir beim Verpacken. Uff, das wars. Ich steige in den vollbesetzten Flieger mit Achterreihen.

 

Beim Umsteigen in Istanbul und Einchecken nach Bishkek umgeben mich andere Menschen. Ich schließe sie gleich in mein Herz. Sie wirken freundlich und entspannt, irgendwie fast buddhistisch. Die vielen Kinder spielen entspannt, ohne zu nerven oder zu quengeln.

 

Der Flug startet um eins in der Nacht, Ortszeit Istanbul, und geht schnell vorbei. Ich schlafe und döse viel, relativ relaxed in dem engen Sitz. Nach viereinhalb Stunden Flug landen wir um halb neun Uhr Ortszeit in Bishkek. Vier Stunden Zeitverschiebung zu Mitteleuropa. Alles klappt anstandslos, Passkontrolle, PCR-Testkontrolle. Der Zöllner fragt, was in meiner Kiste sei. Ich antworte, ein Fahrrad, und er winkt mich durch. Mein Transfer, ein alter Daimler-Kombi, in den die Radkiste so gerade reinpasst, wartet und bringt mich in mein Hostel, das Sweet Home Hostel in der Motrasowka 94, die gerade völlig erneuert wird. Riesenbaustelle. Das Hostel liegt allerdings in einer kleinen Anliegergasse und ist ganz ruhig. Ich hau mich aufs Bett und schlafe bis um zwei.

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Ich unterhalte mich mit der fröhlichen Beka vom Hostel und sie zeigt mir, wo ich Geld wechseln und eine SIM-Karte kaufen kann. Die Nebenstraßen sind sehr verkehrsarm, aber auch in erbärmlichem Zustand. Auf den Hauptstraßen ist umso mehr Verkehr. Ich finde den Verkehr aber recht rücksichtsvoll. An Überwegen halten die Autos grundsätzlich an und signalisieren mit Doppelblinker sogar, dass sie anhalten. An Kreuzungen gibt es manchmal nur Ampeln für die Autos. Kein Problem, die Fußgänger richten sich dann ebenfalls nach diesen. An großen Kreuzungen unterstützen Verkehrspolizisten mit Winken und Stakkato-Pfeifen den Verkehrsfluss. Es fahren viele Trollibusse und Matruschkas, alte Daimler-Mini-Busse.

Beim Geldwechseln hab ich Pech. Ohne Passport läuft nichts und den hab ich im Hostel, eine halbe Stunde Fußweg zurück. Blöd. Ich finde einen Bankomat und bekomme mit meiner EC-KArte Geld. Gut zu wissen, dass das funktioniert. Mit neuem Mut betrete ich ein Telefongeschäft. Aber auch hier: ohne Pass keine Chance. Also verschiebe ich das Projekt.

 

Ich will zum Tschuj-Prospekt. Dort sammeln sich die meisten Sehenswürdigkeiten. Der ist aber noch weit und ich springe in einen Bus, nachdem ich gesehen habe, wie die Bishkeker*innen beim Fahrer bar bezahlen. Ich zücke meinen kleinsten Schein: 500 Som, 5 Euro. Der Fahrer ist nicht amüsiert. Eine freundliche Frau hilft mir aus. 8 Som kostet die Fahrt, also 8 Cent. Crazy Shit. So sollten wir das in Deutschland auch machen, 50 Cent oder gleich ganz umsonst.

In der Nähe des Tschuj-Prospekt steige ich aus und klapper die Sehenswürdigkeiten ab. Das finde ich nicht so ganz einfach. Die Beschreibung im Reiseführer ist nicht so toll und die Karte auch nicht. Außerdem ist nicht so leicht erkennbar, welches Gebäude, welcher Platz, welches Monument denn „sehenswert“ ist und welches nicht. Klar und für mich auch berührend sind aber der Siegesplatz zu Ehren der im Großen Vaterländischen Krieg gefallenen. Natürlich haben auch viele Kirgisen in der Roten Armee gegen Nazideutschland gekämpft, viele Opfer gebracht und den Völkern Asiens und Europas, nicht zuletzt uns Deutschen einen unschätzbaren Dienst erwiesen. Dafür empfinde ich große Dankbarkeit. Unvorstellbar, wie die Welt heute aussähe, wäre dies nicht geschehen.

 

Vor dem modernen Nationalmuseum am Alatoo-Platz stehen eine Säule mit Manas, dem Dichter des Nationalepos, und ein Fahnenmast, an dem zwei junge, sehr junge Soldaten regungslos Wache halten. Stündlich ist Wachwechsel und die Präzision der Bewegungen ist beeindruckend. Die gestreckten Beine werden bis auf Höhe der Hutkrempe hochgeworfen. Ich käme nicht mal bis zum Becken. Eigentlich mag ich alles Militärische und Pompöse nicht so, vor dem Hintergrund des oben geschilderten bin ich jedoch auch hier angerührt.

 

Ich guck mir noch ein paar andere Sachen an. Bis zum Osh-Bazar ist es mir heute aber zu weit. Im Kebab-Pasha gehe ich Schaschlik essen. Superlecker, sowohl der Salat, der Reis, das Brot und auch das Rindfleisch ist superzart und geschmackvoll. Mit dem Bus fahr ich wieder ins Hostel. Ich hab jetzt auch Kleingeld. In den verbreiteten öffentlichen Toiletten, 10 Som die Benutzung, konnte ich meinen 500er-Schein kleinmachen.

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Freitag, 18. Juni 2021

Bishkek, Parkanlagen und Bazar

Ich schlaf bis neun Uhr aus. Wenn ich an Deutschland denke, dann ist das nicht so spät, denn dort ist es erst fünf in der Nacht. Mein Frühstück besteht aus zwei Spiegeleiern, Fladenbrot, leckerem Gurkensalat, einem mit Marmelade gefüllten, Croissant-ähnlichen Gebäck und Tee.

 

Der freundliche ältere Mann vom Hostel, der mich gestern empfangen hatte, versucht ein Gespräch mit mir. Er war wohl als Soldat in Buchenwald zu DDR-Zeiten. Viel mehr verstehe ich nicht und er zieht sich vor den Fernseher zurück. So hab ich im Hintergrund laute Beschallung von Russia 1. Nachrichten von Kriegsgebieten, Putin, Erdogan. Ich finde die Berichterstattung sehnsationslüstern und stimmungsmachend, schnelle Kameraführung, ein sich lustig machender Putin in Großaufnahme, viele explodierende Bomben, auch Aufnahmen aus „Hinterzimmern“, in denen Erdogan eine Landkarte von einem feixenden Putin überreicht bekommt. Großmachtpolitik der russischen Art, wie mir scheint. Gefällt mir nicht.

 

Ich reiche dem älteren Herrn, meinen Shiatsu-Handzettel, den ich vorbereitet habe, um den Menschen hier Shiatsu anbieten zu können und den mir Irene, meine Russisch-Lehrerin aus der Volkshochschule in Bremen freundlicherweise übersetzt hat. Er hat aber keine Lust, meint er sei zu alt, mit 65 nicht so viel älter als ich, und zeigt auf seinen runden Bauch. Ich soll es doch mal bei Beka probieren. Die freut sich, sagt aber auch nicht gleich ja. Ich lasse ihr den Handzettel da.

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Keine großen Pläne heute, daran hat sich noch nichts geändert. Ich gehe in den nahen Eichenpark und schreibe Tagebuch. Dann ist es auch schon Mittag und ich bin hungrig. In einem modernen Restaurant esse ich einen Salat und trinke Tee. Die jungen Männer aus dem Service sind auch hier ausgesprochen freundlich, charmant und bemüht. Ich gehe weiter zum Vefa-Einkaufszentrum, heute hab ich meinen Pass dabei, und kauf mir eine SIM-Karte. Ein Monat mit 40 GB kostet umgerechnet 5 Euro. Ich nehme gleich zwei. Die Frau, die mich bedient, richtet mir die Karte gleich ein. Das hätte ich niemals geschafft, so lange, wie sie auf dem Handy rumtippt.

 

Dann wechsel ich noch Geld. Beim Ausgang fängt mich ein Wachmann, junger Typ, ab und wir kommen ins Gespräch. Er spricht sehr gut englisch. Ich frag ihn, mit welchem Bus ich zum Osh-Bazar komme. Der hat einen hohen Stellenwert in allen Reiseführern. Schon Beka konnte nicht verstehen, dass ich ihn besichtigen will. Sie mag ihn nicht. Und auch der Wachmann ist entsetzt. Gefährlich, dreckig, nicht schön. Er weiß aber auch sonst nichts, was er mir empfehlen soll. Auch Busfahren empfiehlt er mir nicht. Genausowenig versteht er, warum ich mir nicht die App runterladen will, die mir sagt, welche Buslinie wohin fährt. Er schaut dann aber für mich in seinem Handy nach. Deutschland findet er toll, weil es dort alles gibt. Ich versuche einzuwerfen, dass wir viel zu viel haben, besser mehr abgeben sollten und es doch am wichtigsten sei zu wissen, wie wir glücklich leben können. Es prallen Welten aufeinander, aber wir verabschieden uns freundlich.

Der Bus Nummer 7 bringt mich zum Osh-Bazar, große Hallen voller Stände und dazwischen auch. Es gibt alles mögliche an frischem Gemüse und Obst, Gewürze und andere Lebensmittel, auch Drogerieartikel, Schuhe, Bekleidung. Ein kurzer Platzregen geht nieder und prasselt auf das Blechdach. Ich bin nicht in Kauflaune und gehe zurück zum Alatoo-Platz, um mir die Tschingis-Aitmatow-Statue anzusehen. Mit dem Bus geht es zurück in mein Viertel. Im schicken Schuppen „Giraffe“ esse ich lecker: Thai-Beef und dazu ein Berry-Smoothie. Die Bedienung ist wie das Essen – wunderbar.

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Samstag, 19. Juni 2021

Ala-Artscha-Nationalpark, 80 km, 1.300 Höhenmeter

Um sechs weckt mich die Sonne, die auf mein goldenes Bettzeug scheint. Zwei Stunden später sitze ich auf dem Rad. Ich bin aufgeregt, nicht sehr motiviert und fahre super vorsichtig aus der Stadt nach Süden in die Berge, die mit weißen Schneespitzen locken. Die großen Straßen haben Radwege mit frischem Asphalt, die ich gerne benutze, um dem Stress mit dem Straßenverkehr zu entgehen.

Doch irgendwann ist Schluss damit und ich darf üben, damit klar zu kommen. Es sind kaum LKW unterwegs, sondern nur PKW und auch viele Mini-Busse. Manche halten Abstand und überholen vorsichtig, andere überholen schon sehr eng, auch wenn genugn Platz zum Abstand halten ist. Oft mach ich Platz und weiche auf den Schotterstreifen aus. Das erscheint mir doch vernünftig.

 

Es ist recht warm und kaum bewölkt. Beständig geht es bergauf und es zieht sich bis zum Eingang des Tals. Ich gönne mir eine kleine Pause am reißenden, Gebirgsbach. Ein junger super-sympathischer Kirgise spricht mich an. Er spricht recht gut deutsch, hat Wirtschaftswissenschaften studiert, dann einige Zeit in Deutschland gelebt und studiert jetzt Diplomatiewesen.

 

Die Straße wird steiler. Ein Lärchenwäldchen, in dem viele kirkisische Gruppen Picknick machen, kündigt den Eingang zum Nationalpark an. Ein paar Autos warten am Schlagbaum auf Einlass. Ich darf seitlich passieren. Kurz vor Ende der Straße drängen sich die Autos und Mini-Busse rechts und links am Straßenrand. Die Wiesen im Tal sind dicht bevölkert.

Ich schließe mein Rad an ein Schild und gehe zu Fuß weiter. Ich bin geschafft von den 1.300 Höhenmeter und meine auch, die dünnere Luft auf rund 2.200 m zu spüren. So macht es mir nichts aus, zusammen mit flanierenden kirgisischen Familien und einer deutschen Reisegruppe auf einem breiten, anspruchslosen Spazierweg zu gehen und schöne Ausblicke zu genießen. Ab und zu fallen ein paar Regentropfen, dann kommt wieder etwas die Sonne durch.

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Die Abfahrt läuft gut auf großteils glattem Asphalt. Verkehr ist auch nicht so viel. Kurz vor Bishkek kauf ich ein Pfund Himbeeren am Straßenrand, umgerechnet 1,40 €. Ich probiere gleich – superlecker. Ich fahre weiter bis Bishkek und setze mich in einen kleinen Park, wo ich den Rest, jetzt schon reichlich durchgemanscht, mit triefenden Fingern vertilge.

Sonntag, 20. Juni 2021

Bishkek, dritter Tag

Heute steht nicht viel auf dem Programm, vor allem Lebensmitteleinkaufen für die nächsten Tage unterwegs. Ich brauche auch noch ne lange Hose zum Radfahren, denn die habe ich zuhause vergessen, wie mir skurilerweise mitten in der Nacht einfiel.

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Gestärkt von Wareniki, russischen Teigtaschen mit Kartoffelfüllung, steuere ich einen repräsentativen Outdoorladen an, der aber hat zu. Da fällt mir ein: klar, ist ja auch Sonntag. Doch im Vefa-Einkaufszentrum hab ich Glück. Ein Geschäft mit Sportklamotten bekannter Marken hat geöffnet und ich finde genau, was ich suche. Im Supermarkt nebenan stelle ich meinen Speiseplan für die nächste Woche zusammen. Fünf Kilo werden es. Die Auswahl ist nicht schlecht: Müsli, Nudeln, Reis, Nüsse, Trockenfrüchte, Müsliriegel. Von den vielen Fertigtütchen mit Gewürzmischungen lass ich lieber die Finger. Ketchup, Olivenöl, Pfeffer, Knoblauch – das soll fürs Erste reichen.

 

Ich gehe noch Tee trinken und Kuchen essen und dann zurück ins Hostel, um alles zu verpacken.

 

Der Altersdurchschnitt der Menschen hier ist deutlich niedriger als bei uns. Es gibt viele junge Menschen, Jugendliche und Kinder, wenige Alte. Das macht einen lebendigen und hoffnungsvollen Eindruck auf mich. Die Menschen sind auch modern gekleidet. Frauen mit Kopftuch sind selten. Die Menschen kleiden sich auch sommerlich leicht und sie machen einen authentischen Eindruck – sehr erfreulich und angenehm.

 

Die Fahrzeuge sind dagegen nicht mehr ganz so jung. Uralte, ruckelige Trolleybusse und viele schrottige PKW, gerne auch mal Daimler oder BMW. Allerdings sind auch viele SUV unterwegs, kaum weniger als bei uns. Und das ein oder andere Luxusfahrzeug.

Montag, 21. Juni 2021

Bishkek - vom Umgang mit meinen Ängsten

Als ich aufwache, fühlt sich das gar nicht nach Aufbruchstimmung an. Am liebsten würde ich die Augen schließen und einfach nur liegen bleiben. Was ist los? Gestern noch konnte ich meine Ängste konkret benennen. Ein mühsamer, aber heilsamer Prozess. Denn meine Abwehrmechanismen funktionieren gut. Gelernt ist gelernt. Sie versagen nur angesichts der Größe meines Projektes, dieses Land zwei Monate genussvoll zu erkunden. Daraus würde nichts, wenn ich nur meine tollen Pläne verfolgen und schöne Fotos machen würde. Das klappt nur, wenn ich mich meinen inneren, seelischen, emotionalen Prozessen stelle.

 

Da ich das nicht nur weiß, sondern in den letzten Jahren mehrfach erfahren habe, wie heilsam und erlösend die Begegnung mit mir selbst, den unbekannten, verschütteten Seiten meines Selbst ist, kann ich nicht anders, als mich diesen Prozessen stellen. Alles andere fühlt sich nach Verrat, Selbstbetrug, Selbstaufgabe an.

 

Meine Ängste gestern, denen es ins Auge zu schauen galt: Angst vor einem Unfall, davor, mich zu verletzen und Hilfe zu benötigen, wo es keine gibt in der weiten, kirgisischen Einsamkeit. Angst vor den Gewalten der Natur, Gewitter, Unwetter, Sturm. Angst auch vor übergroßer Anstrengung, Angst, an meine körperlichen und geistigen Grenzen zu stoßen. Ganz alleine wäre ich dafür verantwortlich, denn ich habe mich aus freien Stücken dafür entschieden.

 

Ich nehme diese Ängste sehr Ernst. Teilweise sind sie real und sie helfen mir, wachsam und achtsam mit mir umzugehen. Ich weiß, ich habe schon einige kritische Situationen gemeistert, abseits der Zivilisation, alleine zwei Wochen im Sarek, alleine im Zagros-Gebirge im Iran, alleine im Atlas in Marokko. Auch vertraue ich meiner Intuition. Sie hat mir schon oft aus der Patsche geholfen. Das ist alles keine Garantie, dass mir nichts passiert. Aber ich bin auch kein Sicherheitsfanatiker.Wichtiger als maximale Sicherheit ist mir, gut zu leben, zu lernen, zu wachsen.

 

Der andere Teil meiner Ängste sind die tief in mir gespeicherten, auf alten Erfahrungen beruhenden, aber nie wirklich bewältigten. Sie werden durch aktuelle Situationen getriggert. Das gibt mir die Möglichkeit, meine alten, erlernten Angstmuster anzuschauen, die alten Muster aufzulösen, bessere Lösungen zu finden und mich innerlich zu befreien. Wichtig dafür ist in erster Linie, der Authentizität dieser Ängste – oder auch anderer – Gefühle bedingungslos zu vertrauen, sie anzuschauen und anzunehmen. Jetzt schon eine Lösung zu erwarten, ist nicht hilfreich, so verständlicher dieser Wunsch auch erscheint. Denn die Antwort kommt aus dem tiefsten inneren, meinem inneren Kind. Und das ist aufgrund seiner alten Erfahrungen mit seinen Ängsten meist sehr scheu. Sehr geholfen hat mir dabei Teal Swan und ihr „Completion Process“.

 

Doch immer wieder stoße ich an meine Grenzen. Gestern konnte ich mich von meinen Ängsten befreien. Ich vertraute meiner Erfahrung im Umgang mit schwierigen Situationen. Ich konnte wieder meine Neugierde und Abenteuerlust spüren. Doch heute hat mich die Angst wieder. Und sie ist diffus. Ich kann sie keinem Thema zuordnen. Mein Reflex: Ärger – hau bloß ab, blöde Angst. Scham – schon wieder häng ich fest. Hilflosigkeit – ich stecke fest und schaff das nicht.

 

Der rettende Gedanke: ich bleibe noch einen Tag hier. Und schon huscht ein lächeln durch mich.

Also verlängere ich und gehe frühstücken. Heute gibt es Milchreis, Pfannkuchen mit Frischkäse und leckerer Himbeermarmelade. Dazu noch eine Banane sowie Aprikosen und Kirschen, die auch oft am Straßenrand angeboten werden. Mittags starte ich zu einem erneuten Sightseeing-Rundgang. Erste Station ist der Hauptbahnhof. Angeblich ist Fotografieren hier verboten, der Wachsoldat verzieht auch keine Miene, hat aber nicht das geringste gegen meine kleine Kamera.

Dann will ich mir den Wachwechsel auf dem Alatoo-Platz nochmal ansehen. Durch einen langgestreckten Park komme ich dahin. Der Wachwechsel kommt mir jetzt beim zweiten Mal doch etwas gestelzt vor. Ich besuche noch das moderne zentrale ZUM-Kaufhaus und das Postamt mit Wandschmuck aus sowjetischen Zeiten. Abends Essen im Faiza: Laghman-Nudeln, eine uigurische Spezialität.

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