Kirgisistan 2021
Von Bishkek über den Kegety-Pass
Dienstag, 22. Juni 2021
Von Bishkek nach Kegety, 80 km, 1.500 Höhenmeter
Heute ist der Jahrestag des Überfalls von Nazideutschland auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Ich gebe zu, mir ist das Datum nicht so präsent wie 1. September 1939, 27. Januar 1945 und 8. Mai 1945. Die taz, die ich elektronisch erhalte, lieferte gestern dazu eine informative 13-seitige Beilage. Die Folgen dieses Angriffs waren unvorstellbar brutal: 25 Millionen Tote, davon 3 Millionen sowjetische Soldaten, die oft in Gefangenenlagern dem langsamen Tod durch Hunger, Kälte, Krankheit erlagen, Massaker an der Zivilbevölkerung, rassistische Pogrome, die mörderische Belagerung von Leningrad, brutale Schlachten.
Es ist berührend für mich, in diesem Land, das so viele Opfer erbracht hat, so freundlich und vorbehaltlos empfangen zu werden. Als Deutscher und wissend, dass ich ein soziales und gesellschaftlich-historisch geprägtes Wesen bin, fühle ich Verantwortung und Scham und stoße doch auch an die Grenzen meines Vorstellungsvermögens, wie Menschen so etwas tun konnten oder auch nur durch Wegschauen ermöglichten.
Mir ist heute morgen sehr mulmig zumute und so gar nicht nach losfahren. Ich kann das Gefühl nicht näher spezifizieren. Also beiße ich in den sauren, selbstgepfückten Apfel, fahr mal los und gucke, wie schlimm es wirklich ist und welche meiner Befürchtungen eintreffen oder vielleicht auch nicht. Ich versuche mir zu sagen, Kai, du kannst tun und lassen, was du willst, du musst dir nichts beweisen, nicht funktionieren, überhaupt nicht. Die ganze Welt, lieber Kai, steht dir offen. Das fällt mir super schwer, mir das zu sagen. Es hört sich für mich geradezu ungeheuerlich an. Das ist tief in mir eingepflanzt, das Funktionieren, das Bravsein, das Gute-Schulnoten-Abliefern. Dieses Muster darf gerne aus meinem Leben verschwinden und diese Kack-Unlust loszufahren scheint ein gutes Übungsfeld zu sein. Wenn mir das alles zuviel wird, dreh ich halt um und überleg mir was anderes.
Das Tal ist extensiv bewirtschaftet und ganz hübsch. Ab und zu ein kleiner Ort mit kleinem Lebensmittelgeschäft. Der Verkehr nimmt auch ab. So langsam macht mir das Radeln Spaß. Sorge bereitet mir nur der Anstieg morgen und wahrscheinlich auch noch übermorgen auf den Kegety-Pass. Da bin ich echt gespannt und will mir viel Zeit lassen.
Am Ende des Hochtales geht es über einen kleinen Pass. Ich hab jetzt schon 1.000 Höhenmeter auf dem Tacho. Das nächste Tal führt wieder runter in die Ebene. Ich finde ein schönes Plätzchen zum Kochen. Dann geht es ins Kegety-Tal, erst noch flach. Ein freundlicher Kirgise kann ein paar Brocken englisch. Er ist Christ und schenkt ein Schälchen mit einem kleinen Fertigmenü, das er gerade ausliefert. Ein anderer Kirgise in seinem Auto ist nicht so sympathisch und hat hinten zwei Strunzbesoffene drin. Der eine kann auf englisch beleidigen und tut das auch mehrfach. Hab ich keinen Bock drauf und fahr weiter. Kinder spielen auf der Straße, rufen „hello“, winken oder klatschen ab. Auch die kleinsten, ganz furchtlos, neugierig und easy.
Im stimmungsvollen Abendlicht fahre ich noch ein Stück das Tal hoch und finde einen wunderschönen Zeltplatz direkt am Fluss. So ist der Tag, der so zäh und schwer begonnen hatte, doch sehr schön und erlebnisreich geworden. Meine Befürchtungen sind nicht eingetroffen und ich krieche wohlig, zufrieden und glücklich in meinen Schlafsack.
Mittwoch, 23. Juni 2021
Das Kegety-Tal rauf, 24 km, 1.400 Höhenmeter
Als ich mein Rad die Schwemmlandstufe hochwuchte, die meinem Zeltplatz Blickschutz von der Straße gewährt, komme ich ziemlich ins Keuchen. Ein kleiner Vorgeschmack auf mein heutiges Programm: immer bergauf, bis zu 20 %, auf Schotter mit dem schweren Rad.
Das Tal steigt immer steiler an, die Beine haben nicht die Power, die ich mir wünsche, ich keuche und schwitze und auch mein Kreislauf kommt an seine Grenzen. Ist die Luft denn hier auf 1.500 m schon so dünn? Das Tal ist wunderschön und es sind einige Menschen unterwegs, schauen sich den Wasserfall an und picknicken.
Ich komme langsam in meinen Rhythmus und mache viele Pausen. Überraschenderweise kann ich doch viel fahren und muss nur gelegentlich, wenn die Straße zu steil wird oder zu viele Steine rumliegen, schieben. Es macht mir dann nichts, einfach alle 20 m anzuhalten. Ich genieße die schöne Natur und lass mir Zeit. Auch mein Kreislauf kommt jetzt mit der Höhe klar. Jeder Meter, den ich vorwärts komme, ist gut und so komme ich voran und vor allem, ich gewinne an Höhe. Der Pass liegt auf 3.700 m.
Aus einem Auto heraus, werde ich mit „Salaam“ gegrüßt und zum Kaffee eingeladen. Drei Männer aus Saudi Arabien machen hier Urlaub. Ihr Fahrer kommt aus Palästina und studiert in Bishkek Zahnmedizin. Auf einem Teppich unter Bäumen gibt es gelben Kaffee, den ich noch nie gesehen, geschweige denn getrucken habe, verschiedene leckere Datteln aus ihrer Heimat, Kekse und Obst. Sehr nette Gesellschaft und ich bekomme mehr Essen mitgegeben, als mir lieb ist.
Weiter oben werde ich von einem Paar angesprochen, das hier spazieren geht. Sie spricht gut englisch. Hat sie in ihrem Studium „internationale Zusammenarbeit“ gelernt. Auch diese beiden sehr sympathische und zugewandte Menschen.
Bei 2.500 m hört der Wald auf, etwa so wie bei uns in den Alpen. Die Berge sind noch überwiegend grün. Nur einzelne Fels- und Schneegipfel schauen hervor. Es wird immer frischer, wegen der Höhe, aber auch wegen der Wolken und da die Sonne, in dem steil eingeschnittenen Tal hinter den Bergen verschwindet. Die Straße liegt hoch über dem Fluss. Auch gibt es immer weniger flache Wiesenstücke, wo ich Zelten könnte. Aber wie nach einem ungeschriebenen Gesetz taucht der ideale Platz auf und ich schnapp ihn mir.
Donnerstag, 24. Juni 2021
Über den Kegety-Pass, 20 km, 600 Höhenmeter
In der Nacht war es ganz schön kalt, in meinem Schlafsack aber kuschelig warm. Wieder ist mir nicht nach aufstehen und Abenteuer, obwohl ich doch schon einiges bewältigt habe. Am liebsten würde ich einfach liegen bleiben. Da sitzt was echt tief. Das Gefühl nervt und ich würde es am liebsten ruhig stellen. Geht aber nicht und will ich auch nicht. Es hilft nur hinzulauschen. Nach einer Weile höre ich es tief aus mir: Ich will nicht los! Woher kommt das? Ich finde keine emotionale Antwort. Es könnte damit zusammenhängen, dass ich als Sechsjähriger auf eine Kinderkur in Bad Rothenfelde geschickt wurde. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich das wollte. Es war schrecklich dort und ich sehr einsam. Auch nach meiner Rückkehr zu meinen Eltern fühlte ich mich nicht aufgefangen. Ich hatte auch schon vorher gelernt, meinen Schmerz zu verbergen.
In dem Alter musste ich auch für zwei Wochen ins Krankenhaus. Auch da wollte ich nicht hin und ich fühlte mich dort einsam. Auch durfte ich als Neugeborener nicht bei meiner Mutter bleiben, sondern wurde in einen Säuglingsraum gebracht. Alles Erlebnisse, wo ich weggebracht wurde und die ich in Zusammenhang mit meinem Gefühl – ich will nicht los – bringe.
Ich gebe dem Gefühl Raum, frühstücke in Ruhe und fahre irgendwann los. Heute ist viel schieben angesagt. Es sind noch 800 Höhenmeter und die Landschaft wird immer steiniger. Ab und zu kann ich auch ein Flachstück fahren. Ich versuche jedoch wie gestern, meine Kräfte einzuteilen, mache oft Pause oder bleibe kurz stehen und halte an. Die Luft ist dünn und ich hab nicht viel Power, sonst geht es mir aber gut. Außer einem Pferdehirten mit seinen 30 Pferden begegnet mir niemand mehr.
Irgendwann sehe ich den Pass. Wo die Straße zu erkennen ist, liegt Schnee. Da wird doch hoffentlich geräumt sein. Überall auf der Straße sind Spuren von Räum- und Bauarbeiten. Von einem Gletscher kommt eine riesige Geröllbahn runter. Die Straße ist nur notdürftig repariert und sehr mühselig. Fahren hier noch Autos? Heute jedenfalls nicht. Ich komme an eine Schneefeld vorbei, an dem die Straße freigeräumt ist. Gutes Zeichen. Doch dann, die vorletzte Haarnadelkurve vor dem Pass: voller Schnee und nichts geräumt. Dreimal gehe ich den Weg, um Gepäck und Rad drüber zu wuchten. Jetzt bin ich echt gespannt, wie es direkt unter dem Pass aussieht. Und tatsächlich: keine freie Fahrt. Hier ist es schon sehr mühselig, das Schneefeld zu überwinden. Aber ich schaffe es.
Der Pass selbst ist voller Steine. Von Straße oder auch nur Weg keine Spur mehr. Dafür ist die Aussicht auf die Berge und in das Tal auf der anderen Seite grandios. Auf der anderen Seite ist es megasteil und alles voller Schotter. Bis zu 40 % Gefälle, sagt mein Navi. Das würde ja noch gehen, doch der Weg ist oftmals nur ein Trampelpfad und kaum zu erkennen. Und alles voller Steine. Ächz und keuch. Mir bleibt aber nicht viel anderes übrig, als da runter. Und so schiebe ich mein Rad mühsam runter. Oder besser gesagt, bugsiere es runter. Ein Wunder, dass es mir nicht abhaut oder ich stürze. Nach 300 Höhenmeter in etwa einer Stunde ist es vollbracht: Ich kann mich wieder aufs Rad setzen und auf der Schotterstraße weiter das schöne Tal hinabrollen.
Im Tal auf 2.800 m angekommen, suche ich mir einen Zeltplatz und finde einen, nicht ideal, aber okay. Es fängt an zu stürmen und von den Bergen kommen dunkle Wolken herab. Ich kann gerade noch ins Zelt hüpfen, als es losregnet. Es stürmt auch ordentlich, ein Härtetest für mein Zelt. Nach 20 Minuten ist der Spuk vorbei und die Sonne kommt nochmal raus.
Freitag, 25. Juni 2021
Ruhetag im Karakol-Tal, 6 km
Ich komme morgens schon wieder nicht gut in meine Energie und versuche, das zu ergründen. Zur Stimme – ich will nicht los – gesellt sich eine Stimme in mir, die ruft: „weiter, weiter, du musst los, deine Aufgaben erfüllen, das wolltest du doch“. Ich lasse diesen Antagonismus so stehen und beginne in aller Ruhe mein Tagwerk.
In der Nacht hat es geregnet, doch jetzt scheint die Sonne zwischen den Wolken durch. Ich dachte, ich könnte heute gemütlich das Tal zum Karakolpass hochkurbeln, 600 Höhenmeter auf 20 km. Doch es ist zu steil zum radeln und ich schiebe meist. Ich habe keine Power und mein Kreislauf macht sich auch bemerkbar, sobald ich eine kleine Pause mache. Ich bin immerhin auf 2.800 m. Ein Ruhetag scheint mir eine gute Idee, um ich von den Strapazen der letzten drei Tage zu erholen und mich an die Höhenluft zu akklimatisieren.
Leider verläuft die Piste weit über dem Fluss, ein strammer, kalter Wind bläst von vorn. Weit und breit kein schönes Plätzchen zum Zelten. Windgeschützt sollte es auch sein. Auf der gegenüberliegenden Talseite des weiten Tales sind endlose grüne Matten und ab und zu eine Jurte oder auch ein Bauwagen.
Als von rechts ein kleines Seitental mündet, finde ich ein Zeltplätzchen, etwas schief, aber windgeschützt und Wasser ist auch da. Kühe und Schafe weiden. Riesige Pferdeherden, bestimmt 100 Stück, werden das Tal hochgetrieben. Hier verbringe ich den Tag, gerne zwischendurch im Zelt, den es schauert immer wieder. Gegen Abend gehen die Niederschläge in Dauerregen über und bevor es dunkel wird, fallen noch einzelne, dicke Schneeflocken aufs Zelt.