#004 - Österreich (Teil 2) - Italien - Slowenien (Teil 1)
Salzburg - Tauernpass - Mur-, Olsa- und Glantal - Villach - Tarvisio (I) - Sava- und Radovnatal bis Ljubljana
29. November bis 7. Dezember 2024, sechs Etappen, drei Ruhetage, 460 km, 4.200 Höhenmeter
Im leichten Niesel verlasse ich Salzburg auf guten Radwegen. Auch Fahrradstraßen gibt es in der Stadt. Ganz andere Erfahrung als bei meiner Ankunft. Die Salzach ist weiterhin großteils schnurgerade kanalisiert. Ich passiere Hohenwerfen, eine weitere tolle Burg auf einem steilen Felsen mitten im Tal.
Bei Bischofshofen biege ich ins kleine Fritztal ab. Es geht gemächlich bergauf, leider meist auf der Hauptstraße. In Radstadt hau ich mir in einem Wirtshaus nochmal den Bauch voll und Wärme mich auf. Dann geht es zum Zeltplatz, den ich mir bei Daniel Großhandel abgeguckt habe. Er hat alle seine Touren bei Komoot, wie ich ja auch. Und ist im Winter über den Tauernpass.
Dank dickem Daunenschlafsack, genauer gesagt ein Quilt, dicker Daunenjacke, Daunenhose und Daunensocken war mir in der klaren Nacht auf 800 Metern Meereshöhe muckelig warm. Nur die Nasenspitze war frisch. Es ist windstill und alles ist mit Reif überzogen, auch das Zelt von innen. Der Schlafsack ist etwas feucht. So superkalt fühlt es sich nicht an. Sind auch nur minus vier und nicht minus acht wie vorhergesagt. Frühstück gibt es im Zelt. Für unterwegs fülle ich meine kleine Thermoskanne mit heißem Tee.
Bis Untertauern führt der Tauernradweg noch relativ flach auf kleinen Wegen. Über den verharschten Schnee komm ich nur langsam voran. Sobald ich auf den Asphalt einbiege, wird es steil und anstrengend. Das Thermometer bleibt bis oben bei rund minus fünf Grad, auch als die Sonne rauskommt, mir wird aber ordentlich warm. Massig viele Autos rasen an mir vorbei. Sehr nervig, der Lärm und der häufig mangelnde Abstand bei hoher Geschwindigkeit. Nicht zu ändern und so ich schwanke zwischen Ärger und Gleichmut und konzentriere mich auf meinen Job: Treten und die Linie Halten.
Nach zwei Stunden bei ein paar Pausen zum Luftschnappen bin ich oben. 1.753 Meter. Mein erster Pass im Winter. Obertauern ist ein Skizentrum mit vielen Liften, Hotels, komplett zugeparkten Parkplätzen. Ich habe mir ein Hirschgulasch verdient. Vor der Abfahrt packe ich mich schön warm ein. In Mauterndorf, immerhin noch auf 1.100 Metern, ändert sich die Szenerie. Kein Schnee mehr, liebliche Hügel, verträumte Dörfer, kleine Sträßchen, freundliche Menschen. Welch eine Wohltat! In der warmen Sonne setze ich mich auf eine Bank und zieh die ganzen warmen Klamotten wieder aus.
Es ist noch früh am Nachmittag und ich nehme ein Zimmer, um mich gut erholen zu können. Auch scheint eine Erkältung im Anmarsch und da kann ein warmes Bett nicht schaden.
Über Nacht bekomme ich Halsschmerzen. Sonst geht es mir gut. Keine fiebrigen Symptome oder so. Leichtes Schädelbrummen. Ich lege einen Ruhetag zur Genesung ein. Ich bin etwas traurig darüber, denn das Wetter ist erste Sahne und ich hätte Lust weiterzuradeln. Das ist interessant, denn offenbar schwinden meine Befürchtungen, alleine draußen unterwegs zu sein, und meine Lust darauf nimmt zu.
Ich habe auch - nach Empfehlung meines Wirtes - meinen Routenplan geändert. Nicht mehr über den wahrscheinlich vereisten Schönfeldsattel und dann auf Bundesstraße bis Gmünd und dann auf Radweg bis Villach. Sondern die ganze Zeit auf Radwegen und flacher durchs Murtal und von Osten kommend nach Villach. Ein Umweg, aber gemütlicher. Das freut mein Herz.
Die Sonne arbeitet sich langsam durch den dichten Morgennebel und beleuchtet ganz zauberhaft die reifüberzogene Tallandschaft der Mur. Mein Hals fühlt sich ganz okay an und es zieht mich weiter. Durch das Murtal führt ein schöner Radweg und teilt es sich mit einer Schmalspurbahn, die sogar in Betrieb ist, und einer mäßig befahrenen Landstraße.
Beim Frühstück heute lese ich einen Artikel von Alexander Teske aus der taz von Freitag über Wochenkrippen in der DDR. Schon wenige Monate alte Kinder wurden dort hingebracht, Montag morgens, und erst am Freitag Nachmittag wieder abgeholt, so auch der Autor. Mir treibt der Artikel mehrfach die Tränen in die Augen. Meine Erinnerungen an die Zeit in der Kinderverschickung kommen hoch. Manches war ähnlich, die autoritären Methoden, das Fehlen jeglicher Geborgenheit. Manches war in der Wochenkrippe krasser: die Kinder noch viel kleiner, der Zeitraum viel länger.
Ich sehe in meiner Radtour einen Weg, mich mit dem auseinanderzusetzen, was ich in der Kinderverschickung erlebt und erfahren habe. Es geht um das Gefühl, völlig alleine in der großen weiten Welt zu sein. Wenn es mir jetzt schwer fällt, loszuradeln, ein warmes Zimmer mit Bett gegen nasskaltes Wetter und Ungewissheit zu tauschen, so werden vermutlich diese alten Erinnerungen getriggert. Sie erschweren mir, leichten und fröhlichen Herzens unterwegs zu sein, meinen Mut und mein Glück wahrzunehmen. Ich versuche, dem Raum zu geben, und glaube, meine Wunden so heilen zu können.
Heute verlasse ich nach etwa fünfzig Kilometern das Murtal. Es geht 200 Meter steil nach oben. Nach dem Tauernpass ein Klacks. Nach weiteren dreißig Kilometern habe ich bei Micheldorf auf der Karte einen Badesee als Zeltplatz ausgeguckt. Volltreffer! Still im Wald gelegen. Ein gutes Stück weg vom Ort und es gibt sogar ein Gebäude mit Vordach, in dessen Schutz ich mein Zelt aufbaue.
In meiner Kindheit gab es einiges, was mich zu einem zurückgezogenen Einzelgänger hat werden lassen. Einigermaßen mit mir alleine klar zu kommen ist auch eine Stärke, die mir meine Radreise alleine ermöglicht. Ich weiß, dass meine Sehnsucht nach Geborgenheit sehr groß ist. Aber wie diese Sehnsucht füllen? In meinen Beziehungen hat das nie sonderlich gut funktioniert. Ich hatte jedoch vor etwa sechs Jahren ein erhellendes Erlebnis mit meiner damaligen Partnerin. Nach einer gemeinsamen Nacht kamen wir morgens in Streit. Sie warf mir vor, zuviel körperliche Nähe zu fordern. Ich verstand überhaupt nicht. Ich fand, dass sie sich genauso oft an mich ankuschelte wie ich an sie. So ging ich verärgert und nicht wissend, was ich anders machen könnte, zur Arbeit. Und plötzlich nahm ich es wahr. Das Monster in mir! Ein unersättliches Monster, das nach Nähe, Geborgenheit und Liebe lechtzt! Verblüffend! Die Gier dieses Monsters konnte kaum größer sein. Wie das bei einem Monster eben so ist.
Ich wollte diesem Monster Ausdruck verleihen und ging nach der Arbeit in ein Spielwarengeschäft. Da gab es ein paar Monster zur Auswahl. Meine Wahl fiel jedoch auf einen Tyrannosaurus Rex. Ja, das war gut. Damit er auch was zu fressen hat, kaufte ich noch ein kleines Lamm dazu. Zuhause stellte ich beide auf. Und siehe da, das Lamm hatte nicht die geringste Angst vor dem großen Raubtier. Es wusste, es hat etwas, was das hungrige Gegenüber gerne von ihm hätte, aber nicht bekommt, wenn er es auffrisst. So wurden die beiden beste Freunde und das Lamm zeigt dem Rex seine Zartheit und, wie er sich selbst liebt.
Ach so, meine Partnerin hatte in dem Streit natürlich Recht und mir zu einer wertvollen Erkenntnis verholfen. Die Geborgenheit kann nur aus mir Selbst kommen. Und ich wünsche mir, dass mir dies auf meiner Reise immer mehr gelingt.
Dank überdachtem Zeltplatz am See im Wald kann ich mein Zelt trocken, naja, fast trocken einpacken. Ringsum hat die klare Sternennacht Landschaft und Vegetation in Rauhreif gehüllt. Der hält sich lange, denn schon bald verdrängen Wolken die Sonne.
Der Radweg über Feldkirchen und den Ossiacher See nach Villach hat ein paar schöne Abschnitte, aber auch solche entlang der Hauptstraße. In Villach gehe ich in eine Bäckerei und setze ich mich zu Renate und Franz, einem freundlichen Paar aus der Stadt. Sie haben schon mal ein Weltenbummlerpaar beherbergt, die, nachdem ihre Räder kaputt waren, auf eine Schubkarre umgestiegen sind. Ich erzähle von meiner Reise. Zum Abschied übernehmen sie meine Rechnung für Kaffee und zwei Stück Kuchen. Wie herzlich und großzügig.
Ich radle noch ein Stück weiter und finde oberhalb von Riedersberg ein hübsches Plätzchen am Waldrand. Ich höre etwas die Straße im Tal. Ein Güterzug rattert gewaltig.
Über Nacht hat es etwas geschneit und die Landschaft liegt unter einer weißen Decke. Auf dem gut ausgebauten Alpe-Adria-Radweg erreiche ich entlang der Hauptstraße die italienische Grenze. Land Nummer vier.
Jetzt verläuft der Radweg verspielter. Bei Travisio biege ich gen Weißenfelspass ab. Der hat nur so achthundert Meter. Der Weg führt angenehm bergan auf einer alten Bahntrasse. Ich darf als erster durch den frischen Schnee rollen. Oben quatschen mich zwei italienische Straßenarbeiter, beide ein Bier in der Hand, an. Ein lustiges Gespräch. Ich kann ganz gut auf ein paar italienische Brocken umschalten. Englisch hilft auch. Und schon bin ich in Slowenien und rolle talabwärts.
Über einen kleinen Pass komme ich ins Radovna-Tal. Heftige Sturmschäden im Wald. Ein kleines Denkmal für ein Massaker der Deutschen an der Zivilbevölkerung im September 1944. Landschaftlich ganz romantisch und noch im Hellen suche ich mir ein Zeltplätzchen am Fluss.
Nach zehn Stunden Schlaf an der plätschernden Radovna verlasse ich meinen schönen Zeltplatz und folge dem romantischen Tal. Im Talgrund wechseln Wälder und Wiesen, auf denen alte Holzhütten und Scheunen stehen. "Herr Demske" hat vergessen, Müsli fürs Frühstück zu kaufen. So bin ich dringend auf der Suche nach eine Bäckerei oder einem Café. Die beiden Bäcker sind ganz klassische, kleine Lädchen, ohne Kaffee- und Rumhockbrimborium.
In Bled am gleichnamigen See finde ich eine Konditorei, die um acht schon offen hat. Mal nur süß finde ich ganz okay. Der See ist sehr touristisch und das hat seinen Grund, denn er ist mit der Kirche auf einer Insel, einer Burg auf einem steilen Felsen und den hohen, schneebedeckten Bergen im Hintergrund ziemlich malerisch.
Bei Sonnenschein fahre ich meist auf kleinen Sträßchen mit vielen kleinen Anstiegen über die hübschen Städte Kranj und Sofkia Loka nach Ljubljana. Dort will ich drei Nächte bleiben und mich erholen, auch von meiner Erkältung, die nicht schlimm, aber auch nicht richtig gut ist.
Meine zwei Ruhetage fülle ich mit dem Üblichen, vor allem Wäschwaschen und am Computer sitzen. Ich spaziere durch Ljubljana und schaue mir die alten Gassen, die Burg und das alternative Kulturviertel Metelkova an. Das Museum für zeitgenössische Kunst läuft mir über den Weg. Viele Exponate setzen sich mit der Geschichte des Landes im letzten Jahrhundert – Widerstand gegen die deutschen Faschisten, Zerfall von Jugoslawien – auseinander.