Dabei fing der Tag ätzend an. Kaum wach ich auf, überkommt mich das mulmige Gefühl, ständig Angst vor dem nächsten Platten zu haben. Das kann doch nicht sein! Was ist das für eine bescheuerte Prüfung? Ich versuche, in mich reinzuschauen und zu verstehen, nicht nur zu rebellieren und Dinge anders haben zu wollen, die aber sind, wie sie sind. Ich sehe: ich hab mir ein Abenteuer ausgesucht und jetzt hab ich Stress. Das ist eine Prüfung auf Stressbewältigung – und zwar selbst so gewollt und langsam mal dran in meinem zarten Alter von 58 Jahren. Denn ich sehe mich bislang als der große Stressvermeider, lass lieber andere vorangehen, checke erst mal sorgfältig die Lage, überstürze nichts, lass andere entscheiden, auch wenn ich's nicht gut finde, sind sie dann halt selbst schuld. Jetzt hab ich mich in was reingestürzt und habe den Salat.
Was also tun, um mich dieser Plattenflut nicht ausgeliefert zu fühlen. Der Vorderreifen hat über Nacht schon wieder Luft verloren. Ich vermisse das Gefühl, frei auf dem Rad zu sitzen und mich auf es zu verlassen. Wenn es die letzten Tage gut lief, dann war mir klar, der nächste Platten kommt und ich kann es halt nicht ändern. Wenn es schlecht lief, hätte ich heulen können. (Bin nicht so der Wuttyp, noch nicht.)
Ich sitze also beim Frühstück und fühl mich elend. Das darf sein, ich kämpf nicht dagegen an. Nur wo ist die Lösung aus dem Desaster? Die vier Deutschen, die auch hier in der Unterkunft übernachtet haben und Radfahren, fahren schlauchlos. Selbst hab ich die Reifen nach den Platten daraufhin untersucht, ob irgendwas drin steckt oder nicht okay ist, aber nichts gefunden. Vielleicht hab ich nicht sorgfältig genug geschaut? Die Löcher im Schlauch waren alle sehr klein und schwer zu finden. Der Plan: ich schau nochmal ganz genau die Mäntel an, von außen und innen. Ich bitte auch Mahfud, den freundlichen Menschen von der Gîte, ob er mir hilft und auch mal schaut. Er hat vielleicht bessere Augen.
Und tatsächlich: ich finde zwei Mini-Dörnchen. Einer ist von außen zu sehen. Den anderen finde ich beim Abtasten der Innenseite mit der Zeigefingerkuppe. Zu sehen ist rein gar nichts, so klein sind die Dornen. Mahfud findet auch noch einen. Na das ist doch ein Fortschritt. Ich flicke zwei Mini-Löcher im Schlauch, pack meine Sachen zusammen und radel los. Noch muss ich etwas runterkommen und auch Vertrauen in meine Reifen fassen.
Allmählich geht es über Toundout talaufwärts. Ich war mir gestern nicht sicher gewesen, wohin ich heute fahren will. Der 2.200-m-Pass nach Kelâat M'Gouna schien mir ein No-Go. Zu hart. Also weiter auf der AMR-Route? Gestern hatte mir der Blick Richtung Berge viel besser gefallen, als Richtung Süden. Auf der Karte hatte ich auch gesehen, dass die AMR-Route im Saghro-Djebel nur gestrichelt ist, der Weg über Kelâat M'Gouna aber durchgehend gezeichnet, also von besserer Qualität. Von Mahfud hatte ich erfahren, dass es drei Wege nach Bou Trarar gibt. Der flache schien mir zu langweilig. Über die Berge gibt es wohl zwei. Die will ich nun ansteuern und spontan entscheiden, welchen ich letztlich nehme. So könnte ich vielleicht Höhenmeter sparen.
Da wird nichts draus, denn es gibt eine gut fahrbare, nicht zu steile, asphaltierte Straße bis auf 2.000 m. Schöne Dörfer und grüne Felder und Terrassen wechseln sich ab mit tristen Fels- und Schotterpassagen. Je höher, desto idyllischer. Mir gefällt es, ich kann auch noch auf Schotterpiste weiterfahren und muss nur die letzten 100 Höhenmeter bis zum Pass schieben.
Auf der anderen Seite geht es durch ein hübsches Tälchen mäßig steil auf Schotterpiste bergab. Ich komme an einem einsamen Häuschen mit schönem Garten drumherum vorbei. Die Landschaft öffnet sich zu einer weiten, nach Süden flach abfallenden Ebene. Am Nordrand dieser Ebene fahre ich gen Osten, ohne große Steigungen, auf immer besser werdendem Schotter. Die Ebene ist gleichmäßig mit kleinen Dornensträuchern bewachsen. Ab und zu kommt ein kleines Dorf.
Die Ebene endet an einem Hügel, auf dem zwei Sendemasten stehen. Um den Hügel rum und ich komm in ein Dorf, das von schönen grünen Feldern umgeben ist. Überall blühen weiße Mandelbäume. Ein schönes Plätzchen. Leider kein Café. Dafür fängt bald wieder Asphalt an und zügig geht es talwärts, gleichmäßig flach, durch größere gepflegte Orte. Grüne, bewirtschaftete Flächen nehmen ab, es ist mal wieder karg, dafür frischt der Wind auf und zwar enorm. Er kommt von Norden und trifft mich meist von der Seite. Ich hab Mühe, auf der Straße zu bleiben, vor allem, wenn mich ein größeres Fahrzeug passiert.
Bald jedoch biegt meine Route nach Süden und ich werde geschoben. Durch eine Schlucht geht es nochmal ordentlich rauf und runter, bis ich im wunderschönen Bou Thrarar im Vallée des Roses ankomme.
Eine letzte Pause mit Tee und ich fahre die letzten 25 km durch das Rosental mittlerweile zum vierten Mal. Nur Super-Insider wissen, warum. Mein Zimmer ist wie gesagt frei und ich beschließe den Tag mit Duschen, Tee auf der Aussichtsterrasse im Abendlicht und einem viel zu üppigen Menü.